EUROPA vereint in Musik und Wort – und ein Gedächtnis-Genie
Von Wolf-Dieter Rennecke
Dass ein Organist die Noten für ein komplettes Konzert im Kopf hat und kein einziges Notenblatt benötigt – das ist nahezu unvorstellbar. Die Besucherinnen und Besucher der St.-Augustinus-Kirche in Ricklingen konnten auf einem Bildschirm verfolgen, wie der italienische Konzertorganist Paolo Oreni virtuos und voller Verve auf den drei Manualen und dem Pedal der Lobback-Orgel spielte und ständig die Registrierungen – Klangfarbe und Charakter änderte.
Die Einheit Europas ist in Gefahr – durch Egoismen, Ab- und Ausgrenzung und sogar Hass. Ihre völkerverbindende Funktion muss deshalb auf allen Ebenen erinnert und praktiziert werden. Ein Nationsgrenzen überwindendes Medium ist dabei die Musik. Dem Senior-Organisten der St.-Augustinus- Kirche, Winfried Dahn, war es gelungen, im Vorfeld der Europa-Wahl zum 5. Juni zwei Leuchtfeuer für den gesamteuropäischen Gedanken einzuladen: die oberste Repräsentantin des Landes Niedersachsen, Landtagspräsidentin Hanna Naber, und Paolo Oreni, international bekannter Konzertorganist für Improvisation und Literaturspiel aus Bergamo. Seine Auftritte sind Weltereignisse. St. Augustinus hat seit 30 Jahren einen europäischen Bezug: Im Rahmen der Konzertreihe „Musik an St. Augustinus“ haben hier Künstler aus vielen europäischen Ländern Gastkonzerte gegeben. Ein Ausspruch: „In Ricklingen sind wir in Europa“.
Im Gespräch mit Winfried Dahn nannte die Landtagspräsidentin die Demokratie als einzige Staatsform, die man lebenslang lernen müsse. Dahn zitierte den Soziologen Oskar Negt, der derselben Meinung ist: „Ich suche nach Antworten auf die Frage, warum Menschen unter bestimmten Bedingungen ihren politischen Verstand verlieren und andere politische Urteilskraft zeigen und praktizieren – unter Umständen sogar unter Einsatz ihres Lebens." Die Landtagspräsidentin beklagte, in der Gesellschaft gebe es immer weniger Kompromissbereitschaft. Gegen Menschenverachtung sei Zivilcourage angesagt. Auf die Frage, wie belastbar die Demokratie sei, erwiderte die Landtagspräsidentin, für immer komplexer werdende Aufgabenstellungen würden einfache, aber nicht praktikable Lösungen angeboten. Das könne man nur als Populismus bezeichnen. Sie zitierte einen jungen Mann, der „einen wohlwollenden Diktator“ zur Bewältigung des Klimawandels forderte. Auf die Wirkungen und Folgen einer Diktatur hingewiesen, die unweigerlich mit Freiheitsverlusten verbunden seien, reagierte er nur mit Ratlosigkeit. Sie aber sei guter Hoffnung, dass wir die Zukunft mit guter Politik gestalten können, wenn wir die Zuversicht nicht verlieren.
Den musikalischen Teil gestaltete Paolo Oreni europäisch. Eingangs improvisierte er über das Eurovisionsthema, das Präludium zum Te Deum des Franzosen Marc-Antoine Charpentier. Deutschland war vertreten mit Bachs Toccata und Fuge in F-Dur und natürlich mit der Europa-Hymne von Beethoven „Freude, schöner Götterfunken“ nach dem Text von Friedrich Schiller. Die wurde gegen Schluss auch von allen gesungen. Bachs Konzert für Orgel nach dem Italiener Antonio Vivaldi und die Orgelsymphonie Nr. 5 von Charles-Marie Widor setzten weitere Akzente. Glanzstück war aber eine eigene Improvisation des Konzertorganisten zur Ode an die Freude. Oreni spielte alle Möglichkeiten aus, die die Orgel zu bieten hatte, und erzeugte auch ganz ungewohnte und ungewöhnliche Nuancen. Zarte Töne wechselten sich ab mit dunklen Untertönen und wie Donnergrollen, wohl ein Hinweis auf die Bedrohungen der Demokratie. Wie gesagt: alles aus dem Kopf ohne Noten. Die Improvisation ist eine Augenblickseingebung, ein Unikat. Ein sehr beeindruckender Beweis der hohen Kunst des Konzertorganisten.
Landtagspräsidentin Hanna Naber verknüpfte das musikalische Erlebnis mit dem Zitat des monumentalen Gedichts „Orgelspiel“ von Hermann Hesse und der politischen Situation damals – 1930er Jahre – sowie der heutigen Situation: „Seine Kritik an der Entfremdung und seine Warnung vor den Folgen politischer Radikalisierung und des Nationalismus sind heute und in ganz Europa genauso relevant wie damals.“ Mit einem leidenschaftlichen Appell warb sie dafür, dass sich alle ihrer Verantwortung gegenüber unserm Staatswesen bewusst sind und entsprechend handeln: „Wir müssen reden. Wir müssen zuhören. Wir müssen Vielfalt und Unsicherheiten ertragen und wieder lernen, konstruktiv, respektvoll miteinander zu streiten. Und wir müssen akzeptieren, dass die Demokratie keine Summe von Partikularinteressen ist, sondern aus der Fähigkeit besteht, Kompromisse zu schließen. Im Sinne des Zusammenhalts, im Sinne des Gemeinwohls.“
Im Vorfeld Fußball-Europameisterschaft spielte Oreni zum Abschluss eine Improvisation über die Nationalhymne seines italienischen Heimatlandes, verwoben mit der deutschen Nationalhymne: Einigkeit und Recht und Freiheit.
Programm
Orgelkonzert
St. Augustinus-Hannover, 5. Juni 2024, 19.15 Uhr
„Eurovisionsmelodie“ vor dem Talk am Turm
Marc-Antoine Charpentier (1643 – 1704)
Improvisation zum Präludium aus dem Te Deum
Deutschland
Johann Sebastian Bach (1686 - 1750)
Toccata und Fuge in F-Dur BWV 540
Italien/Deutschland
Antonio Vivaldi (1678 - 1741) / J.S. Bach
Konzert nach Vivaldi für Orgel BWV 972
Frankreich
Charles-Marie-Widor (1844 - 1937)
Orgelsymphonie Nr. 5 in F-Dur
Allegro vivace
Italien
Paolo Oreni (*1979)
Improvisation
Deutschland
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Symphonische Improvisation
„Europa-Hymne“
Text: Friedrich Schiller
Musik: Ludwig van Beethoven, 9. Symphonie
Sowohl vom Europarat (1972) als auch von der EG (1986) wurde Beethovens "Ode an die Freude" als Europahymne beschlossen.
Der Schlusschor mit der 1. Strophe zum Mitsingen
An der Lobback-Orgel: Paolo Oreni (Italien)
Wir bedanken uns herzlich für die Mithilfe in dieser Veranstaltung:
Danksagung: Pastor Roland Herrmann
Empfang: Christian Weske (KV) & Hannelore Clasing
Finanzen: Dieter Posniak (KV)
Orgelstimmung: Georg Schloetmann
Don-Bosco Haus: Hannelore Clasing
Videotechnik: Carsten Piefke
Fotografie: Michael Galle
Plakat & Collage: Oliver Nöthel
Gesang: Thilda von Scheven
Konzept & Gesamtleitung: Winfried Dahn