Oberricklingen

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Offener Appell zur Flüchtlingsunterbringung in Oberricklingen:

Von Menschen und Menschenrechten

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger in Oberricklingen,

mit großer Bestürzung verfolgen wir derzeit die öffentliche Diskussion zur geplanten Flüchtlingsunterbringung in Oberricklingen.
Bis Ende des Jahres müssen 465 zusätzliche Asylsuchende in Hannover untergebracht werden, 40 von ihnen sollen im ehemaligen Luftschutzbunker in der Munzeler Straße 25 Zuflucht finden. Zwei Beispiele sollen erklären helfen, warum uns einige der vorgebrachten Argumente gegen eine Flüchtlingsunterkunft – gerade in Oberricklingen – so betroffen machen.

Herbert*, in Pommern geboren, wird 1945 mit seiner Mutter und weiteren drei Geschwistern aus seiner Heimat vertrieben. Die Soldaten zwingen die Familie mit Maschinenpistolen im Anschlag, ihre Wohnung zu verlassen und treiben sie gemeinsam mit Nachbarn zum Bahnhof. Dort werden sie in einen Viehwaggon verladen. Das Ganze dauert eine halbe Stunde!

Herberts Vater ist im Krieg. Niemand weiß, wo er sich befindet.

Während des Transportes werden die Frauen regelmäßig von russischen Soldaten vergewaltigt. „Das war an der Tagesordnung“ sagt Herbert. Kinderaugen müssen das mit ansehen. Alle Flüchtlinge sind krank, ausgehungert, verlaust und entsetzlich schwach. Besonders natürlich die Kinder. Die Frauen nutzten jeden Halt des Transportes, um auf naheliegenden Feldern etwas Essbares zu finden. Obst und Gemüse werden den Bauern „geklaut“. Wenn der Zug wieder anfährt und die Mutter noch nicht wieder zurück im Waggon ist, stehen die Kinder entsetzliche Angst aus. „Wir haben dann nur noch geschrien“.

Als der Transport in Mecklenburg ankommt, werden die Menschen in ein Lager zu Hunderten anderen Flüchtlingen gebracht. Die Mutter verstirbt an Typhus, der Vater ist weiterhin unauffindbar. Der sechsjährige Herbert und seine Geschwister sind allein. Sie werden in Heimen untergebracht, getrennt. Später kommt Herbert zu Pflegeeltern. Als diese ihn nicht mehr ernähren können, kommt er zu anderen Pflegeeltern. So verbringt er seine Schulzeit. Als Jugendlicher lebt er in der ehemaligen DDR wieder in einem Heim, erlernt einen Beruf. Um nicht von der Volkspolizei eingezogen zu werden, flüchtet er als 16-jähriger in den Westen. In Berlin ist er dann wieder in einem Flüchtlingsheim, in dem täglich bis zu 700 Flüchtlinge eintreffen. Herbert kommt nach Niedersachsen, damals noch Sperrgebiet. Hier erfährt er, dass sein Vater durch das DRK gefunden wurde. Er ist sehr krank und verstirbt noch im selben Jahr.

Als 18-jähriger kommt Herbert nach Hannover. Er findet eine „Wohnung“ im Bunker in Oberricklingen, Munzeler Straße 25. Ein Zimmer für sechs Personen mit Vollpension für 36,— DM. Weil er bald eine Arbeit findet, kann er sich einen Vorschuss zahlen lassen und diese 36,— DM bezahlen. Bis er das Geld zusammen hat, schläft er in der Bahnhofsmission. Später wohnt er in einem Drei-Bett-Zimmer, welch ein Luxus! Es ist ein Zuhause. Erst als er über 30 Jahre alt ist, wohnt er in einer Wohnung ganz allein, ohne Mitbewohner.

Der Flüchtling aus Pommern hat wieder eine Heimat. Wie gut, dass der Bunker schon damals Menschen aufgenommen hat, die aus ihrer Heimat flüchten mussten! Herbert ist seit Jahrzehnten einer unserer liebsten Nachbarn.

Moghim ist 15 als er zur Flucht gezwungen wird. Seine beiden Geschwister wurden von einer Rakete in Afghanistan zerfetzt, sein Vater starb bei einer Explosion. Zusammen mit Mutter und Schwester flieht er nach Pakistan. Bei seiner Rückkehr hat sein Onkel den Familiensitz übernommen und droht damit, Moghim umzubringen. Erneut muss Moghim fliehen. Schlepper bringen ihn und andere Flüchtlinge zu Fuß und in Kofferräumen versteckt über die Grenzen.

Die Reise dauert mehrere Monate, tagelang gibt es nichts zu essen. In Deutschland findet er schließlich Zuflucht in einer Unterkunft für Asylsuchende. Kein Komfort – aber Sicherheit. Was bleibt, ist die Angst der Abschiebung, mit der er jeden Tag konfrontiert ist, denn noch immer erwartet ihn in der Heimat eine lebensbedrohliche Situation. Traumatisiert und depressiv schreibt er seine Erfahrungen auf. Als einer von 1400 Bewerbern, die zum Teil aufwändige Manuskripte und Videos eingeschickt haben, gewinnt er mit seinen drei handgeschriebenen Seiten den Anne- Frank-Wettbewerb. Der Bundespräsident persönlich gratuliert Moghim. Der SPIEGEL interessiert sich für seine Geschichte und beginnt seine Reportage mit den Sätzen „Wer Moghim (…) an einem guten Tag kennenlernt, kann sich kaum vorstellen, dass es auch die anderen Tage gibt. Moghim kann mit den Augen lachen – wirklich. Er erzählt lustige Anekdoten, spricht voller Enthusiasmus über die Demokratie, schimpft auf den Krieg.“

Moghim hätte einer der 465 Menschen aus Afghanistan, Iran, Irak, Syrien oder Nordafrika sein können, die die Stadt bis zum Jahresende zusätzlich unterbringen muss. 40 von ihnen suchen – wie damals Herbert – in der Munzeler Straße Zuflucht.
Für die Stadt ist die, insbesondere auch durch die Situation in Syrien und Nordafrika ausgelöste Flüchtlingswelle eine große Herausforderung. Alle bisherigen Unterkünfte sind voll belegt. Auch wenn die Unterbringung möglichst über den freien Wohnungsmarkt geregelt werden sollte, ist dies angesichts des begrenzten Zeithorizonts und im Hinblick auf die Zahl der Menschen nicht immer möglich. In Hannover hat man sich deshalb dafür entschieden, die Unterkünfte auf möglichst viele unterschiedliche Stadtteile und Standorte zu verteilen, um einer Konzentration vorzubeugen.

Die vorgesehene Unterbringung in der Munzeler Straße ist insofern die richtige Lösung. Bei einer Zuweisung von 40 Menschen wird der Stadtbezirk Ricklingen auch nicht über die Maßen belastet. Zum Standort Munzeler Straße gibt es keine Alternative, so dass eine Diskussion um das Ob an den Tatsachen vorbeigeht. Wir müssen uns vor allen Dingen über das Wie Gedanken machen.

Eine Diskussion, die im Vorfeld mit Vorverurteilungen arbeitet und Ängste bei Anliegern schürt, ist wenig hilfreich. Was einem hier an Argumentationen entgegenschlägt, ist zum Teil abenteuerlich und gerade mit Blick auf die Geschichte des Stadtteils Oberricklingen, in dem viele Familien von einem ähnlichen Schicksal wie Herbert berichten können, beschämend. Wir brauchen eine Atmosphäre des Willkommens. Deshalb muss es jetzt darum gehen, um mehr Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern zu werben.

Vor allem aber darf man nicht vergessen, dass es hier um Menschen geht, die oft schwere Schicksale zu tragen haben und die auf unsere Solidarität angewiesen sind. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen. Nicht nur das Gebot der Nächstenliebe, sondern auch und vor allem das im Grundgesetz verankerte Bekenntnis zu den Menschenrechten verpflichten uns dazu.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, bitte tragen Sie dazu bei, dass notleidende Menschen in Ihrem Stadtteil nicht vorverurteilt, sondern freundlich empfangen werden. Dies war bisher auch gute Tradition in Oberricklingen, einem Stadtteil mit einer ganz besonderen Geschichte und so soll es auch weiterhin bleiben.

*) Name geändert.